Gedanken

Vielleicht ist es nur eine Legende. Die Signoria in Florenz hatte einen großen Marmorblock bestellt und einen Bildhauer beauftragt, daraus eine Figur zu meißeln. Entweder war der Bildhauer kein sehr großer Bildhauer oder der Stein war schlecht gebrochen – der Bildhauer wusste mit dem Block jedenfalls nichts anzufangen. Er sah keine Möglichkeit, aus diesem Block eine Figur herauszuholen.

So lag der große Block herum. Die Versuche des hilflosen Bildhauers hatten ihm nicht gut getan. Andere Bildhauer kamen, schauten und gingen wieder. Mit diesem Stein war nichts mehr anzufangen. Eines Tages kam Michelangelo, der Maler und Bildhauer, in seine Vaterstadt. Ob ihm der Stein auffiel, oder ob man ihn darauf aufmerksam machte – er begann sich mit ihm zu beschäftigen. Er schaute ihn an. Er schätzte seine Maße. Er maß ihn ab. Er überlegte. Immer deutlicher sah er vor sich, noch in Stein, die Figur, welche die Florentiner wünschten. Er sah den David, die Schleuder auf der Schulter, die Kieselsteine in der Hand, wie er gelassen und gelöst zum Kampf gegen Goliath ausschritt.

Die anderen sahen nur einen Steinblock, der unnötig und unbrauchbar im Weg lag. Michelangelo sah bereits den David. Er sah ihn, in dem verpfuschten Marmor, nahm Hammer und Meißel und begann zu arbeiten. Die Neunmalklugen lachten, wussten sie doch, dass aus dem Block nichts mehr werden kann. Er aber meißelte. Während sie noch redeten, argumentierten und bewiesen sie, dass er, auch er, scheitern werde, wuchs unter seinen Händen eine der großen Plastiken der Welt.

Niemand hätte ihn getadelt, hätte er den Stein als unbrauchbar liegen gelassen. Niemand hätte an seinem großen Können gezweifelt, hätte er es an diesem verhauenen Block nicht versucht. Er aber begann zu arbeiten, belächelt von den einen, bestaunt von den anderen. Seine Hände folgten seiner Vision und aus dem Stein wuchsen Glieder, wurden Leib und Gesicht.

(aus mir unbekannter Quelle)